Ayurveda ist eine Medizin des Verstehens. Bevor ein Therapieplan erstellt wird, steht immer die Frage: Wer ist der Mensch, der mir gegenübersitzt – mit seiner einzigartigen Konstitution, seinen Lebensgewohnheiten, Belastungen und seiner inneren Balance?
Die Grundlage: Anamnese und Beobachtung
Am Beginn jeder Diagnostik steht die gründliche Anamnese – ein ausführliches Gespräch, in dem Lebensstil, Ernährung, Emotionen, Verdauung, Schlaf, bisherige Krankheitsverläufe und persönliche Vorlieben erfasst werden.
Sie schafft die Basis, um die individuellen Konstitutionsmerkmale (Prakriti) und aktuellen Störungen (Vikriti) voneinander zu unterscheiden – ein zentrales Element für jede weiterführende Therapie.
Die acht klassischen Diagnoseverfahren
Die ayurvedische Medizin kennt acht zentrale Methoden der Untersuchung (Ashta Sthana Pariksha), die gemeinsam ein differenziertes Bild des Menschen ergeben:
- Pulsdiagnose (Nadi Pariksha): Sie gilt als feinste und zugleich anspruchsvollste Methode. Über den Puls lassen sich energetische Qualitäten und Dosha-Ungleichgewichte erfassen, ebenso wie Hinweise auf Agni, Ojas und den mentalen Zustand.
- Zungendiagnose (Jihva Pariksha): Die Zunge spiegelt den Zustand der Verdauung und des Stoffwechsels wider. Farbe, Form und Belag geben Aufschluss über Ama (Toxine), Dosha-Störungen und emotionale Belastungen.
- Urin- und Stuhldiagnose (Mutra und Mala Pariksha): Veränderungen in Farbe, Geruch oder Konsistenz zeigen, wie gut Stoffwechsel und Ausscheidungsfunktionen arbeiten.
- Betrachtung von Augen und Haut (Netra und Twak Pariksha): Beide gelten als sichtbare Indikatoren innerer Prozesse. Leuchtende Augen und klare Haut stehen für Vitalität, während Trübungen oder Verfärbungen auf Dysbalancen hinweisen.
- Beurteilung von Stimme und äußerem Erscheinungsbild (Shabda und Akriti Pariksha): Auch Stimme, Körperhaltung, Gestik und Ausstrahlung sind Ausdruck innerer Balance oder zum Beispiel Erschöpfung.
Diese Methoden werden stets im Zusammenspiel interpretiert und mit den Ergebnissen der Anamnese abgeglichen. Erst durch diese ganzheitliche Betrachtung entsteht ein vollständiges Bild des Menschen.
Diagnose als Prozess der Erkenntnis
Eine ayurvedische Diagnose ist keine rein technische Untersuchung, sondern ein dialogischer Prozess – getragen von Achtsamkeit, Wahrnehmung und Erfahrung.
Sie erfordert tiefes theoretisches Wissen ebenso wie Schulung der Intuition und Wahrnehmung.
Deshalb wird in der Ausbildung an der Europäischen Akademie für Ayurveda vermittelt, wie man den Menschen liest – mit Kopf, Herz und Hand.
Denn die ayurvedische Diagnostik ist letztlich mehr als das Erkennen von Störungen: Es geht im Wesentlichen darum zu erfassen, welche Eigenschaften das Individuum in seiner Balance und Selbstheilung stören. Ziel ist es, auf Basis dieser Analyse eine Therapie auszuwählen, welche die überschüssigen Eigenschaften ausgleicht und vermeidet. – Das ist ganzheitliche Medizin. Das ist Ayurveda.