„Eine gute Mahlzeit ist wie der Akkord eines Orchesters“

Ayurvedische Ernährung in Europa

Interview mit Prof. Dr. Martin Mittwede, Studienleiter Ayurveda-Medizin an der Europäischen Akademie für Ayurveda

Prof. Dr. Mittwede, Sie beschäftigen sich als Indologe bereits seit Jahrzehnten mit Ayurveda. Zu ihren Spezialgebieten zählt die ayurvedische Ernährung. Lassen sich die aus Indien stammenden Ernährungsregeln des Ayurveda sinnvoll auf unseren westlichen Kulturkreis übertragen?

Grundsätzlich ja, wenn wir bedenken, dass es dabei wirklich um eine Übertragung der ayurvedischen Prinzipien und nicht um das Kopieren indischer Gewohnheiten geht. Leider werden relativ häufig indische Rezepte als „Ayurveda“ präsentiert, obwohl sie eigentlich nur zu dem heißen Klima in Indien passen.

Auch das klassische indische Gericht „Reis und Dal“, also Reis kombiniert mit Hülsenfrüchten, ist für uns nicht direkt ayurvedisch; denn bei uns wächst kein Reis, und die in Indien gebräuchlichen Linsen sind bei uns weitgehend unbekannt. Aber indirekt ist das schon ayurvedisch, und zwar aus folgenden Gründen: Reis mit Linsen ist eine warme, nährende Speise, die Kohlenhydrate (Reis) mit pflanzlichem Eiweiß kombiniert, so dass ein sehr gutes Nährstoffprofil entsteht. Viele alte Kulturen haben solche Rezepturen entwickelt wie z.B. Couscous (Weizen mit Erbsen) oder Maisfladen mit Bohnen in Mittel- und Südamerika. Wichtig ist also, was unsere heimische Entsprechung eines solchen Gerichts ist. Dabei können wir an Getreidesuppen mit Erbsen- oder Bohneneinlage denken. Oder wir nehmen den klassischen Linseneintopf.

Wir sollten immer im Bewusstsein haben, dass es im Ayurveda um die gute Verdaulichkeit von Speisen geht. Und Verdaulichkeit hat auch etwas mit Gewöhnung und Regionalität zu tun. Natürlich haben die alten Ayurveda-Lehrer nur die Lebensmittel gekannt, die es vor 2500 Jahren in Indien gab. Unsere Arbeit wird es in den nächsten Jahren sein, basierend auf der ayurvedischen Beschreibung von Lebensmitteln (Eigenschaften, Geschmack, Wirkung) eine wirklich europäische Form der ayurvedischen Ernährung zu entwickeln. Aus meiner Sicht gibt es diese bisher noch nicht bzw. nur in Ansätzen.

Der Verzehr von tierischen Eiweißen ist ein heiß diskutiertes Thema in der Ernährungswelt. Wie steht Ayurveda dazu? Muss es immer vegetarisch sein oder darf auch mal etwas Fleisch auf den Tisch?

Als eine ganzheitliche Gesundheitslehre ist der Ayurveda nicht dogmatisch. In den Klassikern werden alle Lebensmittel beschrieben und in Gruppen sortiert. Auch die Fleischsorten werden hinsichtlich ihrer Dosha-Wirkungen beschrieben. Die damaligen Ärzte, die gleichzeitig auch Gesundheitsberater waren, hatten es mit verschiedenen Patienten zu tun, dazu gehörten auch die Nicht-Vegetarier. Jeder wurde im Rahmen seines Lebensstils angemessen ayurvedisch unterstützt, um einen Weg zu mehr Balance und Wohlbefinden zu finden. Insofern gibt es keine eindeutige Antwort auf die Frage. Der Vegetarier kann mit Ayurveda seine Ernährung verbessern und ebenso der Nicht-Vegetarier.

Betrachten wir die Ganzheitlichkeit des Ayurveda, dann wird deutlich, dass diese sehr stark mit der modernen wissenschaftlichen Ökologie übereinstimmt. Es geht darum, immer die Zusammenhänge insgesamt zu betrachten. Aus dieser Sicht ist der hohe Fleischkonsum der Menschheit eine ökologische Katastrophe; denn er ist die uneffektivste Form, Nahrung zu erzeugen. Ayurvedisch betrachtet müsste der durchschnittliche Fleischkonsum in den reichen Ländern um 80-90% reduziert werden. Auch aus Sicht der modernen Ernährungswissenschaft würde diese Menge an tierischem Eiweiß völlig ausreichen, wenn ausreichend pflanzliches Eiweiß verzehrt wird.

Und natürlich gibt es darüber hinaus auch ethische und gesundheitliche Aspekte, die sowohl aus modern-medizinischer als auch aus ayurvedischer Sicht gegen den vielen Fleischverzehr sprechen. Wer die schmackhafte Vielfalt der ayurvedischen Küche mit ihren vielen Gewürzen und Kräutern kennen lernt, kann leicht auf Fleisch verzichten.

Besonders zum Abnehmen empfehlen viele hiesig-bekannte Diäten eine überwiegend proteinhaltige Ernährung. Entspricht dies auch den ayurvedischen Grundsätzen zur Gewichtsreduktion? Welche Eiweißquellen sind laut Ayurveda am verträglichsten?

Fast alle Diäten sind einseitig und führen auf Dauer in die Mangelernährung. Moderne Diäten haben sich von dem alten Konzept einer ausgewogenen Balance gelöst, obwohl diese Idee in dem alten Wort „Diaita“ drinnen steckt.

Ein einzelner Nährstoff kann also nicht zur Lösung des Gewichtsproblems führen. Wichtig ist die Balance aller Nährstoffe und aus ayurvedischer Sicht die Begrenzung der Gesamtmenge, was alle immer gern vergessen wollen. Wer maßvoll isst und sich gleichzeitig bewegt, der beginnt, sich auf den richtigen Weg zu begeben.

Jeder Mensch benötigt alle Nährstoffe, daher macht es keinen Sinn, einen besonders zu betonen und die anderen zu verurteilen. Im alten Indien gab es natürlich noch keine Analyse in Kohlenhydrate, Eiweiß und Fette, aber im Konzept der vollständigen Mahlzeit, die alle Geschmacksrichtungen enthalten sollte, steckt eine tiefe Weisheit. Nährende Lebensmittel kombiniert mit Gewürz- und Bitterstoffen sorgen für eine gute Versorgung des Menschen mit allem, was er braucht.

Aus Sicht des Ayurveda ist auch der gesamte Tagesablauf wichtig, also z.B. die Hauptmahlzeit mittags zu verzehren und abends leicht zu essen. Bei dieser leichten Abendmahlzeit können dann in der Phase des Abnehmens die Kohlenhydrate und Fette reduziert und die Eiweißträger etwas betont sein. Etwas Eiweiß bewirkt bei einer relativ frühen Abendmahlzeit (18.00 Uhr) ein gutes Sättigungsgefühl und sorgt dafür, dass man es bis zum nächsten Morgen schafft, auf Snacks zu verzichten. Zu viel Eiweiß würde die Mahlzeit aber schwer machen.
 
Grundsätzlich ist Eiweiß ein Baustoff und nicht der primäre Energielieferant. Pflanzliches Eiweiß (Hülsenfrüchte, Vollkorngetreide, ...) ist dem tierischen gegenüber vorzuziehen. Gekochte proteinhaltige Lebensmittel sind leichter verdaulich als gebratene.

Welche Wirkung hat die tägliche Ernährung auf unser psychisches Gleichgewicht?

Ernährung ist ein wesentlicher Faktor unseres Lebens, und manchmal sitzt die Depression auch im Darm. Ernährung hilft uns dabei, die körperliche und psychische Balance aufrecht zu erhalten und zu stärken. Zu viele schwere Speisen machen uns auf Dauer auch seelisch schwer und langsam. Und manchmal sollen die vielen süßen Dingen (Kapha stärkend) die eigene seelische Leere füllen, was sie aber nicht schaffen.

Wir können mit einer ausgewogenen ayurvedischen Ernährung viel tun, um uns zu entlasten und Leichtigkeit und Stärke auf der körperlichen Ebene zu erzeugen. Dies ist hilfreich, um kraftvoll richtige Entscheidungen im Leben zu treffen und dadurch eine Basis für das psychische Gleichgewicht zu schaffen.

Der Zusammenhang ist also nicht so ganz direkt und einfach. „Iss Dich glücklich“ führt wahrscheinlich häufiger zum Übergewicht als zum wirklichen Wohlfühlen. Alles hat aus Sicht des Ayurveda eine Wirkung, und diese Wirkung kann natürlich auch auf der seelischen Ebene beschrieben und analysiert werden. Das Problem ist nur, dass es heute nicht wenige Menschen gibt, die alles richtig machen wollen und sich in dem Wunsch, richtig essen zu wollen, verkrampfen. Das führt dann eher zum Gegenteil des seelischen Gleichgewichts.

Meine Empfehlung: Schaffen Sie eine gute Balance in Ihrem Leben durch Ernährung, Bewegung und einen an ihre Lebensweise angepassten Tagesablauf. Sorgen Sie zudem für regelmäßige tiefe Entspannung und schauen sich ihre aktuellen Lebensthemen an. Wenn die so erzeugte Basis stabil ist, dann dürfen Sie ab und zu auch alle Regeln vergessen und einfach nur genießen. Wer das nicht mehr kann, ist vom psychischen Gleichgewicht ziemlich weit entfernt.

Gibt es Ernährungsempfehlungen oder Nahrungsmittel, mit denen wir unser emotionales Wohlbefinden besonders gut steigern können?

Auch wenn ich mich wiederhole: Wichtig ist die leichte Abendmahlzeit. Mit vollem Magen wird schwer geträumt, die gesamte Regeneration des Körpers und die Aufarbeitung des Tages ist gestört. Der Schlaf wird schlechter, und so beginnt schon der nächste Morgen ohne wirkliche Leichtigkeit und Freude. Der Tag kann dann auch nicht mehr viel besser werden.

Allgemein gesagt sorgen die wärmenden und nährenden Lebensmittel auch für emotionale Zufriedenheit. Gewürzt mit etwas Feurigem und leicht Bitterem ist zudem eine Basis für geistige Anregung und Kreativität geschaffen. Eine gute Mahlzeit ist wie der Akkord eines Orchesters, es gibt die tiefen Töne und die hohen, alle zusammen ein harmonisches Ganzes. Auf diese Weise kann schon das Kochen glücklich machen, wenn die verschiedenen Düfte sich im Haus verbreiten und die Vorfreude auf das leckere Essen wächst.

Für unser emotionales Wohlbefinden ist es auch gut, sich ab und zu eine unserer Lieblingsspeisen zu gönnen. Dabei sollten wir das beste Geschirr benutzen; denn wenn wir tot sind, ist es dafür zu spät. Der Ayurveda sagt Ja zum Leben und fördert den balancierten Genuss. Mit dem Ayurveda können wir uns auf eine Entdeckungsreise begeben, die uns viele neue Geschmackserlebnisse eröffnet. Ja, teilweise lernen wir überhaupt wieder, richtig zu schmecken, das Frische und das Natürliche zu genießen. In dieser Sichtweise kann uns letztlich jedes Lebensmittel ein Stückchen glücklicher machen.