Betrachtungen zum ayurvedischen rasayana-Konzept

Jung und gesund bis ins hohe Alter?!

Artikel von HP Oliver Becker

Der ayurvedische Fachterminus rasayana wird gewöhnlich als Anti-aging-Maßnahme verstanden. Dahinter verbirgt sich ein komplexes, fundiertes und bewährtes Therapiekonzept. Nachfolgend sollen einige ausgewählte Aspekte dieses ayurvedischen Ansatzes beleuchtet werden.

Der Mensch und die Unsterblichkeit

Der Traum von ewiger Jugend und Unsterblichkeit begleitet den Menschen seit Urzeiten. In allen Kulturen finden sich Legenden von Verjüngungselixieren, magischen Rezepturen oder geheimnisvollen Jungbrunnen. Seit jeher hat der Mensch seine besondere Fähigkeit der Intelligenz eingesetzt, um den Schrecken des Todes zu besiegen – bislang ohne Erfolg. In der vedischen Tradition stellt der Tod keine Schreckgestalt dar, vielmehr wird er als Gottheit verehrt. Der Name des Todesgottes ist Yama. Dieser lehrt in der berühmten Katha-upanishad seinem Schüler Naciketas das spirituelle Geheimnis des Lebens, das zu endgültiger Freiheit (moksha) von Leben, Tod und allem damit verbundenen Leiden führt.

Alterung und Tod im Ayurveda

Auch Ayurveda möchte dem Menschen dieses letztendliche spirituelle Ziel ermöglichen. Gleichzeitig ist Ayurveda eine pragmatische Lebenskunde mit praxis- und ergebnisorientierter Ausrichtung auf den Alltag des Menschen. Daher legt Ayurveda seinen primären Fokus zunächst auf die qualitative und quantitative Lebensverbesserung des Menschen im Hier und Jetzt.

Im Fachbereich rasayana, einem der acht Zweige der klassischen Ayurveda-Medizin, beschreiben die ayurvedischen Quellentexte Möglichkeiten zur Verlangsamung des Altersprozesses und zur Gewährleistung von Jugendlichkeit im Alter. Gleichzeitig betonen sie, dass Unsterblichkeit nicht möglich ist. Denn Alterung und Tod sind die natürlichen Wesensmerkmale alles Lebendigen, untrennbar mit dem Leben verbunden und daher unvermeidlich. Da Alterung und Tod jedoch mit Leidenszuständen verbunden sind, bezeichnet Ayurveda sie als sogenannte natürliche Krankheiten (svabhava-bala-pravrtta-roga). Doch akzeptiert Ayurveda sie keineswegs, wenn sie vorzeitig auftreten. Trotz dieser rationalen Sichtweise finden sich in den klassischen Ayurveda-Texten nahezu unglaubliche Beschreibungen der Ergebnisse vielfältiger rasayana-Rezepturen und -Therapieverfahren.

Voraussetzungen für rasayana-Therapie

Die Caraka-samhita (einer der bedeutendsten Ayurveda-Quellentexte) widmet das gesamte einleitende Kapitel (Rasayana-adhyayah) ihres Therapieteils (Cikitsasthana) dem Thema rasayana und unterstreicht damit dessen Stellenwert. Dort erfolgt die umfangreiche Ausarbeitung dieses Therapieansatzes, die Diskussion von Vorbedingungen sowie die Beschreibung sowohl materieller/körperlicher als auch nichtmaterieller/psychischer rasayana-Aspekte.

Ayurveda versteht den Menschen als ein psychosomatisches Wesen. Daher müssen Psyche und Soma bei jeder Therapieform entsprechend berücksichtigt werden. Gute Gedanken, eine positive Geisteshaltung sowie eine ethisch-moralische Lebensausrichtung (sog. acara-rasayana) wirken nicht nur an sich gesundheitsfördernd. Sie bilden außerdem den unabdingbaren Nährboden, in dem körperliche rasayana-Verfahren (z.B. Heilpflanzen) erst ihre wahre Kraft entfalten können (Caraka, Ci. 1.36ff.). Für einen unmoralischen Menschen wird die Wirkung der Einnahme von rasayanas wie Cyavanaprasha-avaleha somit begrenzt sein. Diese bemerkenswerte Ansicht der ayurvedischen Weisen beruht auf dem festen Vertrauen in das universelle Grundgesetz von Ursache und Wirkung.

Des weiteren beschreiben die ayurvedischen Quellentexte wichtige körperliche Voraussetzungen für die Wirkung von rasayanas. Diese werden in der Sushruta-samhita (ein anderer bedeutender Ayurveda-Text) anhand einer Allegorie besonders plastisch dargestellt. Der menschliche Körper wird mit einem zu färbenden Tuch verglichen: „Bei einer Person, die sich keiner körperlichen Reinigung unterzogen hat, wird die Anwendung von rasayana-Therapie so erfolglos bleiben, wie ein Färbemittel bei einem dreckigen Tuch“ (Sushruta, Ci., 27.4). Innere Reinigungsverfahren (pancakarma) bilden somit bedeutende Vorbereitungsmaßnahmen zur Optimierung des Körpermilieus für die nachfolgen- den rasayana-Prozeduren.

Die Wirkung einer rasayana-Maßnahme kann somit immer an der Qualität des inneren Milieus (mental und physisch) gemessen werden. Ein virtuoser Musiker kann seine Brillanz erst auf einem intakten und hochwertigen Instrument voll entfalten. Dennoch werden rasayanas unterstützend auch im Krankheitsfall eingesetzt.

Mechanismen der rasayana-Wirkung

Ein Mittel, durch das die Exzellenz von rasa, etc. erreicht kann, wird in der Caraka-samhita (Ci., 1.8) als rasayana definiert. Im Zentrum dieser Definition steht das Konzept von dhatuparinama (Transformation der dhatus). Dies ist der komplexe Prozess der Umwandlung von Nährstoffen der Nahrung in Körperstruktur. Nur seine Normalität gewährleistet, dass sich unsere sieben dhatus (einschließlich upadhatus) kontinuierlich regenerieren können. Im Alterungsprozess wird dhatuparinama zunehmend geschwächt, selbst bei vernünftiger individueller Ernährung. Verantwortlich dafür ist das im letzten Lebensdrittel kontinuierlich ansteigende vata-dosha. Dadurch kommt es im Körper zu degenerativen Prozessen, die sich individuell unterschiedlich ausprägen können. Frühzeitig begonnene rasayana-Maßnahmen vermögen diese negativen Veränderungen zu verlangsamen.

Folgende Faktoren sind notwendig, um die Exzellenz von dhatu-parinama und damit aller essentiellen strukturellen Körperkomponenten zu erreichen: gesunde und regelgerecht konsumierte Nahrung, die normale Funktion von agni (thermisches Umwandlungsprinzip) auf allen Ebenen und die Offenheit der srotas (Transporträume). Die Normalität der zwei letztgenannten Faktoren ist abhängig von der Homöostase des inneren Milieus, die von den Funktionsprinzipien der tridoshas gesteuert wird.

Damit sollte ein rasayana folgende Wirkungen im Körper hervorrufen:

  • Gleichgewicht der doshas
  • Kontrolle von agni, insbesondere der dhatvagnis
  • normale Funktion der srotas
  • spezifische Nährung der dhatus

Der Sanskritbegriff rasayana enthält alle diese Kriterien in kodierter Form. Er entsteht aus der Kombination der zwei Begriffe rasa und ayanarasa bezeichnet das erste dhatu, aus dem alle anderen dhatus und letztendlich die Vitalessenz ojas entstehen. Gleichzeitig steht rasa auch für den Nährstoffpool des Körpers. Dieser ist das Ergebnis der primären Aufspaltung der Nahrung durch jatharagni (zentrales Verdauungsprinzip) und der anschließenden Trennung der Nahrungsessenz (sara) von den Abfallstoffen (mala) durch samana-vata im Dünndarm. Der Begriff ayana bezeichnet Gang, Weg oder Lauf.

Insofern lässt sich der Begriff rasayana als rasa-Vehikel interpretieren, als ein Mittel, das rasa (als Mikronährstoffe) in Gang setzt, auf den Weg bringt und über die Fähigkeit verfügt, diese nicht nur überall im Körper auf Zellebene bioverfügbar zu machen, sondern darüber hinaus den Prozess ihrer Verwertung bestmöglich zu optimieren.

Jede Maßnahme, welche die exzellente Qualität dieses Prozesses besonders gewährleisten kann, erfüllt somit das rasayana-Kriterium, sei es ein Nahrungsmittel, ein Gedanke, eine Heilpflanze oder ein komplexes Therapieverfahren. Hierin zeigt sich wiederum das ayurvedische Verständnis des Menschen als psychosomatisches Wesen.

rasayana und dravyaguna

In der ayurvedischen Substanzlehre dravyaguna-vijnana wird der Begriff rasayana als ein besonderes Gütesiegel vergeben, eine spezifische pharmakologische Wirkung (karma) oder besondere Expertise nur weniger Substanzen, die o.a. Ziele im Körper zu erreichen.

Bekannte Beispiele für rasayana-Substanzen sind z.B. Amalaki, Ashvagandha und Shatavari, die Nahrungsmittel Kuhmilch und Kuh-Ghee, aber auch exotischere dravyas wie Svarna-bhasma (Goldasche), Shilajatu (natürliches Bitumen) oder Kuhurin.

Essentielle Bestandteile von rasayana-Therapie

Alle gesundheitserhaltenden Maßnahmen (svasthavrtta) sind essentielle Bestandteile von rasayana- Therapie. Sie ermöglichen dem Menschen die Anpassung an die Naturgesetze und die Minimierung von Stressfaktoren auf allen Ebenen.

Wichtige Komponenten von rasayana-Therapie sind:

  • tägliche Routinemaßnahmen einschließlich gesunder Aktivitäten
  • gesunde Ernährung
  • eine an die Qualitäten der Jahreszeiten angepasste Lebensweise
  • innere Reinigung des Körpers
  • Medikamente
  • acara-rasayanas: ethisch-moralische Lebensweise

Resümee

rasayana-Maßnahmen sind Therapien, die auf körperlicher Ebene die Qualität von dhatu-parinama verbessern. Dies schließt das Gleichgewicht aller funktionalen und strukturellen Komponenten (doshas, agnis, dhatus, upadhatus, srotas, malas) mit ein. rasayanas setzen jedoch auch auf mentaler Ebene an, denn Körper und Geist stehen in kontinuierlicher Interaktion. Dadurch erreichen sie die nachfolgenden Wirkungen im Menschen als psychosomatisches Wesen:

  • langes Leben
  • Vermeidung vorzeitigen Alterns und Erhalt von Jugendlichkeit
  • Gesundheitserhaltung und -förderung
  • Steigerung der Widerstandsfähigkeit gegen Krankheiten
  • Verbesserung der mentalen Funktionen
  • Erlangen einer attraktiven Persönlichkeit
Oliver Becker

Oliver Becker

Diplom-Pädagoge und Heilpraktiker Dozent, medizinischer Kurleiter, Modulleiter M.Sc. Ayurveda-Medizin, REAA Birstein
Naturheilpraxis Ayurveda-Medizin in Koblenz