Die Doshas verstehen

Artikel von Elmar Stapelfeldt

Die drei doshas (vata sprich „waata“; pitta mit kurzem i; und kapha wie „kaffa“) sind sicher die bekanntesten Ayurveda-Begriffe. Gemeinhin werden mit ihrer Hilfe Konstitutionstypen unterschieden, die eine individuelle Therapie ermöglichen – ein Konzept, das sich gut vermarkten lässt! Doch hinter den doshas verbirgt sich mehr. Der folgende Artikel stellt die klassischen Definitionen vor und vertieft das Verständnis mit modernen Denkansätzen.

Bedeutung

Tatsächlich handelt es sich bei den doshas um die zentrale Theorie der ayurvedischen Lehre. Man begegnet ihnen überall - sowohl in den klassischen Texten, als auch im täglichen klinischen Vokabular der modernen Ayurveda-Ärzte. Auf ihnen fußt nicht nur die Bestimmung der (wohlgemerkt) körperlichen Konstitution, sondern vor allem ein großer Teil der Physiologie (Lehre von den Funktionen des Körpers), der Pathogenese (Lehre von der Entstehungsweise von Krankheiten) und der Therapie des Ayurveda. Die Einteilung von Nahrungs- und Heilmittelwirkungen und die Kunst der Ausleitungsverfahren (shodhana oder pancakarma) kreisen um den dosha-Begriff. Auch verschiedene grob- und feinstoffliche Einflüsse auf unser Körpersystem werden mittels der doshas kategori- siert: Wirkungen von Verhaltensweisen, Tages- und Jahreszeiten, Lebensphasen, Klima und Landschaften, selbst emotionale und soziale Einflüsse.

Entstehung und Begriffe

Ursprünglich sind die doshas sicher aus groben Körperprodukten abgeleitet worden: Winde (vata), Galle (pitta) und Schleim (kapha). Dies entspricht auch der wörtlichen Übersetzung aus der Sanskrit-Sprache. Obwohl dieselben Begriffe verwendet werden, unterscheidet der Ayurveda zwischen der materiellen Form dieser Produkte (nämlich den bloßen Abfallstoffen malas) und einer dynamischen, immateriellen Form (den doshas). In dieser zweiten Form sind sie sog. Säfte (‚Humores’) – ein Konzept, das man aus fast allen traditionellen Heilkundesystemen großer Kulturen kennt. Die doshas sind im ayurvedischen Verständnis für alle positiven und negativen Veränderungen im Körper verantwortlich. Positive Veränderungen bedeutet, dass sie alle notwendigen Körperfunktionen (Physiologie) aufrecht erhalten. Dies tun sie, wenn sie sich in einem ausgeglichenen (physiologischen) Zustand befinden. Dann werden sie (wie die Körpergewebe) auch dhatus („Träger, Stützen“) genannt. Sie sind also die ‚funktionellen Stützen’ unseres Körpers. Mit negativen Veränderungen sind alle Befindlichkeitsstörungen und Erkrankungen gemeint. Diese entstehen, wenn sich die doshas in einem unausgewogenen (pathologischen) Zustand befinden. Für die Therapie sind solche krankhaften, man sagt auch aggravierten oder erhöhten doshas von Bedeutung. Damit erklärt sich auch ihre Bezeichnung als doshas, was wörtlich „Verderber, Fehler“ heißt.

Definitionen

Woran kann man nun eine physiologische (gesunde) oder pathologische (krankhafte) Ausprägung der doshas festmachen? Betrachten wir dazu die klassische Definition. Im ersten Abschnitt (Sutrasthana) der Caraka-Samhita, dem authoritativsten und ältesten (1.Jh.v. bis 2.Jh.n.Chr.) Text des Ayurveda, im ersten Kapitel heißt es:

Ayurvedischer Text

„(vata hat folgende Eigenschaften:) Trocken, kühl, leicht, fein, beweglich, nichtschleimig bzw. klar, sowie rau. Von Substanzen mit Eigenschaften, die diesen entgegengesetzt sind, wird vata besänftigt.“ (Vers 59).

In gleicher Weise (Verse 60-61) werden die anderen beiden doshas beschrieben. Hier nur die jeweiligen Eigenschaften:

„Pitta ist etwas ölig, heiß, penetrierend, flüssiger Aggregat-Zustand, sauer, beweglich wie eine Flüssigkeit (fließend) und scharf.“ „Kapha ist schwer, kühl, weich, ölig, süß, fest und viskös bzw. schleimig.“

Zwei Dinge werden an diesen Versen deutlich: 1. ein dosha zeigt sich anhand bestimmter Eigenschaften (gunas), und 2. um ein dosha auszugleichen, muß man entgegengesetzte Eigenschaften zuführen.

Die dosha-Aktivität lässt sich also anhand der Ausprägung ihm zugeordneter Eigenschaften im Körper erkennen; ist das dosha überaktiv, so mehren sich diese Eigenschaften im Körper; ist es nicht aktiv genug, so verringern sie sich. Z.B. sind bei der vata-dominierten Erkrankung Osteoporose die Eigenschaften trocken, leicht und rau im Knochengewebe überrepräsentiert. Anders herum kann man sagen, dass sämtliche Substanzen oder Einflüsse, denen wir ausgesetzt sind, mittels ihrer spezifischen Eigenschaften, die dosha-Verhältnisse im Körper verschieben - seien es Ernährung, Verhalten, Heilmittel, klimatische oder gar emotionale Einflüsse.

Therapieziel

Ziel der ayurvedischen Gesundheitslehre ist es, im beständigen Wandel dieser unterschiedlichen Einflüsse immer wieder neu ein gesundes Gleichgewicht (‚Homöostase’), der Eigenschaften herzustellen. Dabei ist für jedes Körperorgan oder jeden Funktionskreis (Gewebe, Transportfunktionen, Ausscheidungen, Stoffwechselfunktionen) ein jeweils spezifisches Verhältnis als ‚normal’ oder ‚gesund’ anzusehen. Dasselbe gilt für die individuellen Anlagen (Konstitution) eines Menschen. Ein jeder reagiert auf die genannten Einflüsse anders und muß von daher anders behandelt werden.

Pathologisch bedeutsam sind vor allem ‚erhöhte’ oder ‚aggravierte’ doshas, also das vermehrte Auftreten von dosha-bezogenen Eigenschaften. Entsprechend bemüht sich die ayurvedische Therapie durch Ernährungs- und Verhaltensempfehlungen sowie durch Heilmittel, den überrepräsentierten Eigenschaften ausgleichende Eigenschaften entgegenzusetzen (shamana). Bei der Osteoporose wären dies Heilmittel, die durch ihre Schwere, Öligkeit und ‚Glätte’ den ursächlichen vata- Eigenschaften entgegengesetzt sind. Ein weiterer Ansatz besteht darin, dem Körper diejengen Substanzen zu entziehen, deren Eigenschaften in besonderem Maße das Gleichgewcht der doshas beeinträchtigen. Dies geschieht durch Ausleitungsverfahren (shodhana bzw. pancakarma).

Milieu und Eigenschaften – der Schlüssel zum richtigen Verständnis

Um die Bedeutung dieser Eigenschaften und ihrer Verschiebungen zu erkennen, sollte man naturwissenschaftliche Erkenntnisse vergleichend heranziehen. Die These lautet: Die Eigenschaften sind Signale für Milieukompositionen und die doshas ihre verborgenen Steuerprinzipien. Beginnen wir mit einem simplen Beispiel: Dem Wetterhahn! Wenn ein Wetterhahn sich dreht, so könnte ein Kind fragen: „Was bewegt ihn eigentlich?“ – Der Wind!, lautet die Antwort. „Doch wodurch wird der Wind bewegt?“ – Durch Verschiebungen in den Luftdruckverhältnissen! Die ständig wechselnden Luftdruckverhältnisse sind ein dynamisches Milieu, also eine Atmosphäre voller Wandlungen. Sie bestimmen letztendlich die sichtbaren Veränderungen, die Windböen z.B. am Wetterhahn hervorrufen.

Übertragen wir diesen Gedanken auf den Körper, z.B. auf Enzyme! Enzyme sind hochpotente Substanzen, die alle wichtigen chemischen Reaktionen im Körper umsetzen und somit den meisten körperlichen Funktionen zugrunde liegen. Sie brauchen eine gewisse Atmosphäre (Milieu), in der sie optimal ihre Wirkung entfalten können. Bei Verdauungsenzymen gilt meist der pH-Wert als entscheidend: Gewisse Enzyme brauchen ein eher saures, andere ein eher basisches Milieu. Jenseits der Enzymreaktionen hat die Forschung noch wichtigere Wirksubstanzen entdeckt, wie Hormone, Neurotransmitter (nervale Botenstoffe) oder Neuropeptide („Gehirnhormone“). Diese gelten als die Dirigenten des gesamten Körperorchesters. Doch auch sie sind bei genauerer Betrachtung von optimalen Milieuverhältnisse in ihrer Umgebung abhängig. Diese Milieus werden durch die Zusammensetzung gelöster Stoffe geprägt. Man könnte auch von einem ‚Saft’ oder – in ayurvedischem Sprachgebrauch von einem spezifischen Mischverhältnis von Eigenschaften sprechen. Milieus wandeln sich entsprechend grundlegender Naturgesetze. Betrachtet man die klassische Beschreibung der Eigenschaften der doshas, so findet man hier drei Grundklassen von Milieus vor. Diese sind jeweils fein differenziert und gehen über die Unterscheidung z.B. von einem sauren oder basischen Milieu weit hinaus. Ayurvedisch gesehen kann ein Milieu ölig, feucht oder tocken sein. Hyperaktiv, bewegt oder träge. Heiß, warm oder kalt. Hart oder weich. Fest, flüssig oder gasförmig. Schleimig oder nicht schleimig...

Der Ayurveda klassifiziert Milieus also auf der Grundlage solcher Eigenschaften und bezeichnet die doshas als diejenigen Kräfte, die Milieu-Veränderungen steuern. Dabei sind Enzyme, aber auch Hormone, Neurotransmitter oder Neuropeptide nur die Vermittler, die auf der materiellen Ebene unseres Körpers sichtbare Veränderungen hervorrufen.

dosha-Funktionen

Ein komplexes lebendiges Gebilde wie der menschliche Körper kann auf diese Weise gemäß seiner dynamischen Natur verstanden und behandelt werden kann. Das Augenmerk wird weg von der Differenzierung immer feinerer Wirksubstanzen, hin auf die dynamische Funktionen und Zusammenhänge gerichtet.
Betrachten wir lediglich die Hauptfunktion der doshas: vata steht für Bewegung (kinetische Energie); pitta für Aufspaltung und Energiefreisetzung (kataboles, thermisches Prinzip). kapha für Aufbau und Struktur (synthetisierendes, anaboles Prinzip). Wie sinnvoll diese Einteilung der Physiologie in drei grundlegende Bereiche ist, zeigt ein Beispiel auf Zellebene. Die Zelle gilt als die kleinste materielle Funktionseinheit unser Körpersystems. Stellt man den Fokus grob ein, so lassen sich alle Prozesse, die im Bereich der Zelle statt finden, in drei essentielle Bereiche einteilen: Stoffe treten in die Zelle ein. Dort werden sie aufgespalten. Energie wird frei und die Synthetisierung zelleigener Strukturen findet statt. Abfallstoffe wiederum werden ausgeschieden.
Zufuhr und Ausscheidung sind Transportprozesse oder Bewegungen, also vata zuzuordnen. Aufspaltung und Energiegewinnung sind pitta-bezogene Prozesse. Den Aufbau von Zellstrukturen drückt kapha aus. Ausgehend von diesen Hauptfunktionen werden die dosha- Funktionen im Ayurveda feindifferenziert, so dass man mit ihrer Hilfe die gesamte Physiologie und Pathologie erfassen kann.

Praktikabel

Sicher sind die obigen Beispiele allgemeiner Natur. Der Ayurveda erschöpft sich jedoch nicht in den drei doshas. Er fußt auf einem umfangreichen theoretischen System, das bei der Erstellung einer vollständigen Diagnose eine Vielzahl von Aspekten berücksichtigt. Dennoch ist die grobe Einteilung der Physiologie, Pathogenese, Symptome, Therapie und der multiplen Einflüsse auf unser Körpersystem in drei Bereiche (doshas) sinnvoll und praktisch zugleich. Über die Ermittlung der Eigenschaften erhalten wir Aufschlüsse über die Milieuverhältnisse. Dies ist meist mittels der eigenen Sinne hinreichend möglich. Überschüssige Eigenschaften werden durch entgegengesetzte ausgeglichen und durch diese Milieukorrektur kann sich eine normale Funktion wieder einstellen. Mit einigen grundlegenden Kenntnisse über die Eigenschaften oder die dosha- Zuordnung von Nahrungsmitteln, Heilmitteln und Verhaltensweisen kann selbst der Laie seine Befindlichkeit positiv beeinflussen und ausgeprägten Krankheitsstadien vorbeugen. Dem Arzt hilft diese grobe Einteilung dabei, die Zusammenhänge eines komplexen Falles im Auge zu behalten, unklare Krankheitsbilder positiv zu beeinflussen und - wie die klinische Praxis beweist - selbst schwere Erkrankungen zu heilen.

Ob die doshas lediglich ein praktikables Konzept darstellen, das eine Verbindung zwischen Aussen- und Innenwelt, zwischen Psyche und Körper, zwischen Diagnose und Therapie, zwischen Konstitution und individueller Störung herstellt, oder ob es reale Naturkräfte sind, bleibt an dieser Stelle eine offene Frage. Aber vielleicht entdeckt die moderne Wissenschaft eines Tages Äquivalente für die altbewährten doshas.

Elmar Stapelfeldt

Personenbeschreibung

Vor mehr als 15 Jahren begann Elmar Stapelfeldt seine Ausbildung mit dem Studium des Sanskrit und der Ayurveda-Klassiker an der Universität Tübingen. Den Magister der Indologie erlangte er mit Auszeichnung. Während des Studiums bereits organisierte und dolmetschte er Ayurveda-Seminare. Die dreijährige Heilpraktikerausbildung absolvierte er in Hamburg und war als Dozent und Kurleiter an der Europäischen Akademie für Ayurveda tätig. Zudem gründete er als Herausgeber die Fachzeitschrift Forum Ayurveda. Seine praktische Ausbildung komplettierte Elmar Stapelfeldt mit einer Assistenz an Dr. S.N. Guptas Klinik in Indien. Insgesamt verbrachte er fast zwei Jahre an indischen Ayuveda-Einrichtungen. Seit 2002 ist er fachlicher Koordinator des Studiums der Ayurveda-Medizin für Ärzte und Heilpraktiker an der Europäischen Akademie für Ayurveda. 2003 gründete er eine eigene Ayurveda-Praxis in Dresden und bietet dort Konsultationen, ayurvedische Anwendungen und Ausleitungsverfahren auf klassischer Grundlage an. Heute lebt der erfolgreiche Ayurveda-Mediziner, Dozent und Buchautor in Wien.