Entwicklung und regionale Anpassung der ayurvedischen Pharmakopöe

von Dr. P. Ram Manohar, Forschungsdirektor, The Ayurvedic Trust, Coimbatore, Indien

Der Ayurveda hat einen sehr offenen Ansatz in der Zusammenstellung und der Entwicklung seiner Pharmakopöe übernommen. Die Caraka Samhita, die gefeierte Abhandlung über die ayurvedische Allgemeinmedizin, erklärt, dass es keine Substanz auf der Welt gebe, die nicht als Medizin genutzt werden könne. Alles unter der Sonne, ob natürlicher oder künstlicher Art, habe das Potential zur Verwendung in der Medizin.

Die Susruta Samhita sagt uns, dass die gesamte Erde nach Arzneien durchforstet werden sollte – Flüsse, Berge, Seen, Wälder und sogar die besiedelten Länder – denn die Erde sei sehr großzügig.

Nun ist jedoch wichtig, zu erkennen, dass der Ayurveda kein Befürworter einer rücksichtslosen Nutzung von Substanzen zu medizinischen Zwecken ist. Es ist eine Sache, jegliche Substanzen als Rohmaterial zur Herstellung von Arzneien zu nehmen – eine andere Sache jedoch ist es, eine angemessene und sichere Nutzung dieser Substanzen zum therapeutischen Vorteil zu finden.

Die klassischen Ayurveda-Texte warnen uns auch vor der Vorstellung, dass eine perfekte Medizin auf der Welt existiert. Alles hat seine eigenen Vor- und Nachteile, und daher sind Entscheidungen immer vor dem Hintergrund eines Risiko-Nutzen- Verhältnisses zu treffen.

Von der Entdeckung einer Substanz als potentielle Arzneiquelle bis hin zur Rezeptur als Medizin für die therapeutische Anwendung ist es ein langer Weg mit bestimmte Schritten und Etappen. Die Entwicklung einer ayurvedischen Pharmakopöe basiert auf bestimmten Grundsätzen, die im Folgenden zusammengefasst sind:

  1. Alle pflanzlichen, tierischen, mineralischen, natürlichen und künstlichen Substanzen können als potentielle Quelle für eine Arznei genutzt werden (Charaka Samhita, Ashtanga Hridayam, Ashtanga Sangraha)

  2. Stoffe und Substanzen aus allen Regionen der Erde können in die ayurvedische Pharmakopöe eingebunden werden. (Sushruta Samhita)

  3. Für Menschen aus einer bestimmten Region sind die in dieser Gegend wachsenden Kräuter und natürlichen Ressourcen am besten geeignet. (Ashtanga Sangraha)

  4. Auf der Welt gibt es keine Substanzen ohne Vorzüge oder Mängel. Es muss das Risiko-Nutzen-Verhältnis bewertet werden und dann können sie für therapeutische Zwecke genutzt werden. (Charaka Samhita)

  5. Alle Substanzen und Stoffe sollten umfassend hinsichtlich ihrer Nomenklatur, Identität, Eigenschaft und Verwendung verstanden werden bevor sie in das ayurvedische Arzneibuch aufgenommen werden. (Charaka Samhita)

  6. Ein Protokoll zur sicheren Verwendung ist weitaus wichtiger als die inhärente Sicherheit einer Substanz. Sogar Gifte können in der richtigen Dosis und Verabreichung zu Arzneien werden. (Charaka Samhita)

  7. Durch die Kombination von verschiedenen Substanzen und deren pharmazeutische Verarbeitung können deren 
individuellen Eigenschaften verändert werden. (Charaka Samhita)

  8. Substanzen können auf unzählige Weise hergestellt werden, um den spezifischen biologischen Anforderungen von Personen gerecht zu werden. Es gibt keine Grenzen in der Kombination von medizinischen Substanzen zu formulierten Arzneien – es können Tausende und Millionen von Kombinationen sie erarbeitet werden. (Charaka Samhita)

  9. Falls bestimmte Substanzen nicht erhältlich sind, so können andere geeignete Stoffe verwendet werden. Der hauptsächliche Inhaltsstoff sollte jedoch nicht ersetzt werden. (Charaka Samhita, Yogaratnakara)

Die ayurvedische Pharmakopöe wurde über die Jahrhunderte auf Basis der oben genannten Prinzipien dynamisch weiterentwickelt und beibehalten. Diese Entwicklung ist gekennzeichnet von der Aufnahme von neuen pflanzlichen, tierischen und mineralischen Stoffen und Substanzen in die Pharmakopöe und deren gelegentlichen Entfernung aus dem Arzneibuch. Solche Änderungen wurden entweder global oder regionalspezifisch durchgeführt. Ein wichtiger Aspekt in der Entwicklung des Ayurveda-Arzneibuchs war jedoch die Listung von Ersatzstoffen, genauer gesagt, der regionale Ersatz für die klassischen Pflanzen des Ayurveda. Oftmals fanden neue Pflanzen ihren Weg in die Pharmakopöe eher als Ersatzstoffe statt als Neueinträge.

Die Ayurveda-Pharmakopöe zeigte zudem eine gewisse Dynamik hinsichtlich der Rezepturenentwicklung, denn von Zeit zu Zeit wurden neue Rezepturen entwickelt und dem Arzneibuch hinzugefügt. Verschiedene regionale Traditionen des Ayurveda schrieben wirksame Zusammensetzungen auf der Grundlage von klinischen Erfahrungen und Neuerungen fest. Angesichts dessen ist es leicht zu verstehen und anzuerkennen, dass bei der Überarbeitung des ayurvedischen Arzneibuchs ein größerer Spielraum existiert, um den Anforderungen in neuen geographischen Regionen der Welt gerecht zu werden, so z.B. in Europa, wo der Ayurveda gerade beginnt Präsenz zu zeigen. Die nähere Betrachtung der Traditionen des Ayurveda in Indien und deren Dynamiken ermöglicht uns die Entwicklung einer passenden Strategie, um eine Anpassung der Ayurveda- Pharmakopöe gemäß der Bedürfnisse der europäischen Nationen ins Auge zu fassen.

Aufnahme und Listung von neuen Substanzen

An dieser Stelle ist es wichtig, einige Punkte zum Thema Aufnahme und Listung von neuen Substanzen in die Pharmakopöe zu besprechen. Welche Prinzipien gelten bei der Lenkung und Regulierung von Aufnahmeprozessen bei Substanzen zur therapeutischen Verwendung? Zunächst einmal, wie können wir die Eigenschaften von Substanzen verstehen, wenn diese bisher nicht umfassend in den klassischen Ayurveda-Texten erwähnt wurden?

Es ist nicht ganz einfach, die Substanzeigenschaften in der Sprache der ayurvedischen Pharmakologie zu verstehen. Zu diesem Zweck gibt es in der ayurvedischen Tradition zwei Ansätze: Eine davon bildet die Methode der yogischen Intuition, die andere ist die empirisch-rationale Beobachtung. Die erstere ist für Normalsterbliche unerreichbar, bietet jedoch unmittelbare Resultate. Auf der anderen Seite ist die empirisch-rationale Methode ein mühevoller Prozess und es kann Jahrzehnte, wenn nicht sogar Jahrhunderte dauern bis die Eigenschaften eines bestimmten Krauts oder Stoffs vollständig in ayurvedischen Begriffen nachvollzogen werden können. Dieser Prozess könnte jedoch bis zu einem gewissen Grad mittels moderner, wissenschaftlicher Technologie gefördert werden.

Empirisch-rationale Methode

Heutzutage wird wir wohl die empirisch-rationale Methode zur Untersuchung und Aufnahme von neuen Substanzen in die ayurvedische Pharmakopöe anwenden müssen, da diese mit unserer heutigen Denkweise und den rechtlichen Anforderungen in der Gesellschaft vereinbar ist. Diese Methode beinhaltet zahlreiche Strategien, wie z.B. die Beobachtung der natürlichen Reaktion von Tieren auf die Substanzen (in einer Art Tierstudie), Analyse der ethno-medizinischen Verwendung dieser Substanzen in diversen Stämmen und Völkern sowie die systematischere Untersuchung im Sinne einer klinischen Beobachtung von Ayurveda-Parametern im pharmakologischen Einsatz. Auf diese Weise sollten Nomenklatur, Identität, Eigenschaften und Verwendung der neuen Stoffe dokumentiert und bewertet werden bevor sie in die Ayurveda- Pharmakopöe integriert werden.

Sobald ein vorläufiges Verständnis für die Eigenschaften einer Substanz erlangt wurde, muss diese mit bereits bekannten und im Ayurveda-Arzneibuch verwendeten Substanzen verglichen werden. Sollte hier eine deutliche Ähnlichkeit hinsichtlich der Eigenschaften der neuen Substanz existieren, so gibt es im Folgenden zwei Möglichkeiten, wie der neue Stoff offiziell in die Pharmakopöe eingegliedert werden kann: Eine Option wäre, die Substanz als eine Variante der bereits bekannten Substanz anzuerkennen, z.B. Bala, Atibala, Nagabala, Bhumibala, etc. Eine andere Option wäre es, den Stoff als Ersatz für eine bereits bekannte Substanz anzuerkennen. Zum Beispiel sind die verschiedenen Pflanzen wie Convolvulus pluricaulis, Clitorea ternatea und Evolvulus alsinoides unter der Bezeichnung Sankhapushpi bekannt. Gibt es eine größere morphologische Ähnlichkeit, so wird die Substanz im Allgemeinen als Varietät betrachtet. Gibt es eher Ähnlichkeiten in den pharmakologischen Eigenschaften, so wird die Substanz als Ersatz betrachtet. Dies sind jedoch keine festen Regeln und Bestimmungen.

Wurde die neue Substanz ausgiebig untersucht und hinsichtlich Nomenklatur, Identität und Eigenschaften nachvollzogen, so ist deren unterschiedliche Verwendung formell auszuarbeiten. Es muss bewertet werden, ob die Substanz als Hauptbestanteil, Hilfsstoff oder aber in beiderlei Hinsicht in verschiedenen Rezepturen genutzt werden soll. Substanzen, die dem neuen Stoff entgegenwirken, neutral gegenüberstehen oder mit ihm in Synergie treten, müssen identifiziert werden, wobei hier die allgemeinen Regeln bei der Rezeptur einer Mischung klar dargelegt werden müssen. Nachdem auch die am besten geeigneten Extraktions- und Verarbeitungsmethoden identifiziert wurden, kann die neue Substanz nun ihren offiziellen Platz in der Pharmakopöe des Ayurveda einnehmen.

Was hier kurz beschrieben wurde, ist ein kleiner Schnappschuss der Dynamiken, durch welche die Entwicklung und regionale Anpassung der Ayurveda-Pharmakopöe in verschiedenen biogeographischen Zonen untermauert wird. Eine tiefere Untersuchung der ayurvedischen Traditionen aus dieser Perspektive heraus kann uns dabei behilflich sein, Richtlinien für eine regionale Adaptierung der ayurvedischen Methoden außerhalb Indiens ins Auge zu fassen und zu entwickeln, insbesondere in den europäischen Ländern, wo sich der Ayurveda in einem Status des Wiederauflebens befindet.